Momentum ist ein Narrativ über die Dimensionen der Musik per se – außerhalb dogmatischer Sperren. Was haben verschiedene Epochen und Traditionen gemeinsam, aus welcher Entfernung muss man auf sie schauen, wenn man man die verbindenden Elemente erkennen möchte? Dass ein barocker Choral und ein Coltrane-Solo eine spirituelle Kraft entfalten können, steht außer Frage. Aber was verbindet sie im Kern? Und ließe sich mit dem Befund vielleicht auch eine gute Geschichte erzählen, im Hier und Jetzt? Der Bassist und Komponist Florian Rynkowski hat auf diesen Fragen basierend, den Zyklus „Momentum – Musik für den Kirchenraum“ geformt.
Als maître de plaisir koordiniert Rynkowski ein Ensemble, dessen kammermusikalische Besetzung diverse Klangkulturen reflektiert: ein Nach-Hall der Vergangenheit mit kontemplativer Wirkung ist das Gamben-Trio in temperierter Stimmung, aber mit exzentrischen Timbres, sodass sich in „Schwobe“ subtile Reibungen der Klänge zu den anderen Instrumenten ergeben. Ein weiteres Trio, nämlich aus Posaune, Tenor-Saxofonen und (Bass-)Klarinetten, intoniert sowohl klassische als auch jazztypische Klänge. Schließlich ergänzen ein um präparierte Snare Drum gebautes Schlagwerk, Bass und Vibraphon / Marimba als nicht ganz typische Rhythmus-Sektion die Gruppe zum interaktiven Tripel-Trio oder Nonett. Dieser Konstellation entsprechen neun Momentum-Tableaux.
Den einzelnen Songs gibt Florian Rynkowski mit wechselnden Kombinationen je charakteristische Konturen. So sind kollektive Extempores möglich, etwa „Blau“, wenn dunkle Marimba-Pattern und Streicher-Pizzicati zu eng werden und alle wie beim Free Jazz ausbrechen. Und „Eben“ auch Soli – da vom Tenorsax, als markantes Bass-Intro zu „Nicht jetzt“ oder „Chelidonium majus“ (lat. für Schöllkraut) als Posaunen-Kadenz. Minimal-Muster, Ostinato-Figuren, aber auch swingende Jazz-Riffs und zirkuläre Rhythmen unter raffinierten Klangflächen fügen die musikalischen Erinnerungen der „Momentum“-Episoden gerade im Nu der Improvisation zu einem organischen Ganzen.
Kirchen sind Symbole des kulturellen Gedächtnisses und, die eigene Familiengeschichte erinnernd, für Florian Rynkowski auch Orte der Solidarität im Widerstand gegen politisch totalitär regierte Gesellschaften. In Kirchenmauern sind Worte und Klänge aus mehreren Jahrhunderten gespeichert und so ist die Musizierhaltung von Momentum von Respekt geprägt. Zu dieser Aura passt am besten eine schlichte Klangästhetik und unorthodoxe Musizierhaltung. Kurzum: Kirchen sind eine Umgebung für besonderes Hinein-Hören, deren eingedenk die Momente doch bitte verweilen mögen.
Als in der DDR geborener Sohn einer klassischen Sängerin und eines „Tanz- und Unterhaltungsmusikers“, wuchs Florian Rynkowski von frühester Kindheit an mit musikalischer Vielfalt und kirchlicher Prägung auf. Unter dem Eindruck der deutschen Teilung und einer Jugend in den Nachwendejahren, gewannen Fragen nach kultureller Identität für ihn bald an Bedeutung. Studienaufenthalte in Finnland, Ghana und den USA sind Ausdruck seiner Neugier nach Fremde und Herkunft. Momentum ist ein Vermittlungsversuch zwischen scheinbar Gegensätzlichem, der bunte kulturelle Erfahrung reflektieren, würdigen und erlebbar machen möchte.
Momentum (lat.) – der/das Moment, abgeleitet von movimentum (von movere, sich fortbewegen), beschreibt: 1.) das „Bewegende“, durch Bewegung Wirkende (Mechanik), 2.) ein messbares Zeitintervall 3.) ein erlebbarer Augenblick (Philosophie, Psychologie) 4.) seit der griech. Antike die günstige, geeignete Gelegenheit (kairos), die unvorhersehbar eintritt (Vgl. improvidere) und die es zu ergreifen gilt.